Produktionsverlagerungen der Hersteller: Herausforderungen für die Automobilindustrie und Folgen für europäische Zulieferer

München, Juli 2023

Produktionsverlagerungen der Hersteller - Neue Herausforderungen und Folgen für europäische Zulieferer

München, Juli 2023
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akroökonomische Schocks haben die Attraktivität des Standortes Europa und die Herausforderungen für die Automobilindustrie nachhaltig beeinflusst und eine Verlagerung der OEM-Produktionsvolumen in Richtung Nordamerika und China ausgelöst.

Zulieferer sind von dieser Entwicklung direkt betroffen und stehen vor der Herausforderung für die Automobilindustrie sind groß, um auf diese Verlagerungen angemessen zu reagieren. Folgt auf die technologische Transformation die Anpassung des regionalen Footprints? Und müssen Zulieferer wieder in Vorleistung gehen?

Das Jahr 2022 war gekennzeichnet von wegweisenden makroökonomischen Schocks, wie den Verwerfungen auf den globalen Rohstoff- und Energiemärkten sowie einem seit mehr als 40 Jahren unvergleichlichen Anstieg des Zinsniveaus. Die Automobilindustrie ist davon direkt betroffen. Ein wesentlicher übergeordneter Indikator hierfür ist der Rückgang der Stückzahlprognosen. Gingen die Prognosen Ende 2021 für das Jahr 2023 global noch von 91,9 Mio. produzierten Fahrzeugen aus, sank dieser Wert in den Prognosen Ende 2022 auf 85,3 Mio. Fahrzeuge. Für das Jahr 2029 wird nun ein Rückgang von 102,7 Mio. Fahrzeuge auf 96,4 Mio. Fahrzeuge prognostiziert. Neben dem allgemeinen Rückgang der Produktion auf globaler Ebene, ist die Automobilindustrie in Europa durch diese Entwicklungen besonders betroffen, da sich ein Wettbewerbsnachteil für Europa nachhaltig zu verfestigen scheint.

Nachteil für europäische Standorte

Ein zentraler Nachteil in Europa und besonders Deutschland sind die hohen Energiekosten. Nachdem sich extreme Preisspitzen wieder geglättet haben, liegt das Preisniveau für Strom, vor Steuern und Abgaben, in Europa an den Energiebörsen um den Faktor zwei bis drei höher als beispielsweise in den USA. Bei einem Energieaufwand von bis zu drei Megawattstunden pro Fahrzeug in der Produktion beim OEM, ergibt sich ein deutlicher Nachteil für europäische Standorte. Dieser Effekt wird durch einen weiterhin ansteigenden Anteil von Strom am Energiemix verstärkt, um Nachhaltigkeitsvorgaben zu erfüllen. Aber auch die höheren regulatorischen Auflagen, denen sich die Industrie in Deutschland und Europa ausgesetzt sieht, sprechen für einen Wettbewerbsnachteil, insbesondere im Vergleich mit Nordamerika.

DIFFERENZBETRACHTUNG PRODUKTIONSPROGNOSEN 2021 VS. 2022 & ENERGIEKOSTEN 2022 [MIO. FAHRZEUGE BEREINIGT UM ALLGEMEINEN RÜCKGANG IN GESAMTPRODUKTION – KUMULATIV 2023-2029][KOSTEN / MWH STROM Ø2022]

Quelle: Berylls Strategy Advisors, IHS, Bloomberg, Datenstand Prognose 11/2021 & 11/2022
Strompreise: Europa mit Durchschnitt der wesentlichen Märkte, Nordamerika mit Preisen der USA als Proxy

Verstärkt wird der Wettbewerbsnachteil in Europa durch eine subventionsgesteuerte Politik anderer Industrieländer, wie dem Inflation Reduction Act in den USA. Dieser Umstand hat sich nach einer kurzen Verzögerung bereits in den Stückzahlprognosen für die Fahrzeugproduktion in Europa niedergeschlagen. In dem Zeitraum 2023 bis 2029 sind die Stückzahlprognosen von Ende 2022 für Deutschland und Europa wesentlich pessimistischer als dies noch Ende 2021 angenommen wurde, besonders im Vergleich mit Nordamerika und China. Der Anteil der deutschen Hersteller an der globalen Fahrzeugproduktion geht in diesem Zeitraum von 5,8% auf 5,3% zurück. In Summe legen diese Zahlen nahe, dass aktuelle politische und ökonomische Rahmenbedingungen in Deutschland und Europa die Ursache dafür sind, dass die Automobilindustrie sich zunehmend aus dem Ursprungsland der Automobilität zurückzieht.

Produktionsverlagerungen verstärken Herausforderungen für Automobilindustrie und Zulieferer

Zunehmende Produktionsverlagerungen stellen die automobile Wertschöpfungskette in Europa vor wesentliche Herausforderungen. Bei einem detaillierten Blick ergeben sich jedoch insbesondere Herausforderungen für die Zulieferer. OEMs können die Standortentscheidung zunächst unabhängig treffen. Zulieferer können hingegen schnell unter Zugzwang geraten, wenn sich OEM-Produktionsvolumina verschieben oder ganze Baureihen zukünftig an anderen Standorten gefertigt werden.

Derzeit befindet sich die Automobilindustrie weiterhin im Übergang hin zur Elektromobilität und stellt auch die Zulieferer vor die bekannten Herausforderungen wie Margendruck, geringe Stückzahlen und hohe Investitionsbedarfe. Zusätzlich werden europäische Zulieferer, infolge der Produktionsverlagerungen der Hersteller, auch ihren Footprint anpassen oder zumindest regelmäßig überprüfen müssen. Dies betrifft sowohl Produktionsstandorte als auch produktionsnahe Funktionen wie die Produkt- und Technologieentwicklung.

Produktportfolio und Unternehmensgröße beeinflussen die Herausforderungen

Allgemein lassen sich die Auswirkungen von Produktionsverlagerungen auf Zulieferer auf der Basis des Produktportfolios und der Unternehmensgröße klassifizieren. Direkte Auswirkungen für Zulieferer ergeben sich, wenn sich relevante Produktionsvolumina regional verschieben sowie gesamte Modellreihen verlagert werden. Von besonderer Relevanz ist hier kurz- bis mittelfristig der Wachstumsmarkt der Elektrofahrzeuge, in dem sich das Modellportfolio und die Produktionsstandorte dynamisch entwickeln. Auch hier zeigt ein Vergleich der Prognosen aus 2021 und 2022, dass sich das kumulative Produktionsvolumen der drei deutschen OEMs im Zeitraum 2023 bis 2029 in Deutschland von 13,2 Mio. Elektrofahrzeugen auf 13,0 Million Elektrofahrzeuge rückläufig entwickelt. In Nordamerika steigt das Volumen im direkten Vergleich von 1,4 Mio. auf 2,0 Mio. Elektrofahrzeuge, inklusive der Produktion von neuen Modellreihen.

Exemplarisch lässt sich hier der BMW iX3 nennen, der in den neuesten Prognosen nun neben China zukünftig auch in Mexiko hergestellt wird. In Mexiko wurden von BMW bisher nur die 2er- und 3er-Serie für den amerikanischen Markt hergestellt. Deutschland kann hier nicht mithalten und verliert für den Zeitraum bis 2029 ein Volumen von knapp 79 Tausend Fahrzeugen. Eine hohe Lokalisierungsquote von mehr als 90 Prozent zeigt die Herausforderungen für Zulieferer auf, die in den jeweiligen Regionen nicht vor Ort sind.

Die Größe des Unternehmens wirkt als zweiter wesentlicher Einflussfaktor. Aufgrund der bereits vorhandenen globalen Ausrichtung sind die Auswirkungen für größere Zulieferer geringer. Kleine und mittelständische Zulieferer werden hier wesentlich stärker betroffen sein als globale Player mit einer Vielzahl an Werken und einer draus resultierenden höheren Flexibilität. Weitere Herausforderungen für Automobilindustrie und kleinere Zulieferer sind zudem die Mitarbeiterverfügbarkeit und die Absicherung der Produktionsanläufe an den neuen Auslandsstandorten.

Ein übergeordnetes Risiko bei Produktionsverlagerungen stellen die notwendigen Investitionen und der daraus resultierende Kapitalbedarf dar. Bereits in den vergangenen Jahren wurden hohe zweistellige Milliardenbeträge in den Übergang hin zur Elektromobilität investiert. Dies geschah jedoch in einem Umfeld von historisch tiefen Finanzierungkosten, welches nun schlagartig zu Ende gegangen ist. Zusätzlich sind die Anforderungen von finanziellen Investoren an Kreditvergaben deutlich restriktiver geworden.

Mit proaktivem Ansatz im Wettbewerb behaupten, Herausforderungen für die automobilindustrie meistern!

Standardlösungen für die Herausforderungen durch Produktionsverlagerungen in der Automobilindustrie existieren nicht. Zu unterschiedlich sind die spezifischen Situationen der einzelnen Zulieferer auf Basis des Produktportfolios, dem bestehenden Produktionsnetzwerk und der Unternehmensgröße. Es wird jedoch für eine Vielzahl an Marktteilnehmern entscheidend sein, eine aktive und vorausschauende Steuerung Ihres Portfolios zu betreiben. Des Weiteren können Firmenübernahmen, Kooperationen und strategische Partnerschaften dazu dienen, den Kapitalbedarf zu reduzieren, den Footprint zu optimieren sowie Risiken besser zu steuern.

Abschließend stellt sich die Frage, ob die Verschiebungen der Produktionsvolumen in Kombination mit einem sich verschärfenden Zinsumfeld die Konsolidierung im Bereich der Verbrennerkomponenten beschleunigen wird. Auch hier wird ein proaktiver Ansatz ohne Tabus notwendig sein, um die eigene Wettbewerbsposition zu behaupten oder auszubauen.

Autoren
Dr. Alexander Timmer

Partner

Stefan Schneeberger

Project Manager

Dr. Alexander Timmer

Dr. Alexander Timmer (1981) ist seit Mai 2021 als Partner bei Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors) tätig, einer internationalen und auf die Automobilitätsindustrie spezialisierten Strategieberatung. Er ist Experte für Markteintritts- und Wachstumsstrategien, M&A und kann auf eine langjährige Erfahrung im Operations-Umfeld zurückschauen. Dr. Alexander Timmer berät seit 2012 Automobilhersteller und -zulieferer im globalen Kontext. Er verfügt über ein fundiertes Expertenwissen in den Bereichen Portfolioplanung, Entwicklung und Produktion. Zu seinen weiteren fachlichen Schwerpunkten zählen unter anderem Digitalisierung und der Themenkomplex rund um die Elektromobilität.
Vor seinem Einstieg bei Berylls Strategy Advisors war er unter anderem für Booz & Company und PwC Strategy& als Mitglied der Geschäftsführung in Nordamerika, Asien und Europa tätig.
Im Anschluss an sein Maschinenbaustudium an der RWTH Aachen und der Chalmers University in Göteborg promovierte er im Bereich der Fertigungstechnologien am Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen.