(Kostspielige) Eigenentwicklung eines OS mit dem Ziel, sich nicht in Abhängigkeiten zu begeben, die Datenhoheit zu erhalten, einfache cross-Domain Schnittstellen zu ermöglichen und die Produktivität durch Re-use von Grundlagencode zu erhöhen
Software & OS
ahrzeuge definieren sich zunehmend über die Software
Wer heute ein modernes Auto fährt, kann hautnah erleben und leicht nachvollziehen, warum mehr und mehr vom zukünftigen „software defined car“ gesprochen wird: Statt analogen Kombiinstrumenten gibt es Display-Anzeigen, aus Mittelkonsolen werden Schalter und Knöpfe zunehmend in großformatige Displays überführt und Fahrzeuge können sich teilautonom im Straßenverkehr bewegen oder in Parklücken manövrieren. Dies sind nur wenige Beispiele, die verdeutlichen, dass das Nutzererlebnis zunehmend durch Software bestimmt – und durch nachträgliche Freischaltung von neuen sowie Updates/Upgrades von bestehenden Features – verändert wird. Dies spiegelt sich auch deutlich in der Entwicklung der Marktvolumen für Software und Hardware wider: liegt der Software-Anteil (on & off-board) der Wertschöpfung (Automotive Software und E/E Hardware) nach Berechnungen von Berylls aktuell noch bei 20%, so wird für 2030 eine Erhöhung auf 43% erwartet. Das Gros des Wachstums wir vor allem im off-board Bereich generiert, also Software außerhalb des Fahrzeugs wie Entwicklungstools, Applikationen, Cloud-Dienste. Trotzdem erwartet Berylls auch im on-board Software Bereich, das heißt Software auf Steuergeräten, Infotainment, Fahrerassistenzsysteme, etc., eine nahezu Verdopplung des Marktvolumens.
Der enorm gestiegene Umfang an Funktionalitäten und Anforderungen an die Updatefähigkeit der Fahrzeuge stellt hohe Ansprüche an die E/E Architekturen, welche die Komplexität entsprechend abbilden müssen. Hier stoßen klassische Architekturen aus ca. 70-110 Steuergeräten in einem Fahrzeug sukzessive an ihre Grenzen: so müssen beim autonomen Parken via Einparkhilfe zahlreiche Sensoren, Kameras, Steuergeräte zu einem flüssigen Gesamtablauf orchestriert werden. Dabei wird die Hardware wie Steuergeräte oder Kameras häufig von verschiedenen Lieferanten bezogen und beim OEM integriert. Teils fehlende Standards/Vorgaben in Bezug auf Programmiersprachen, Softwarearchitekturen, etc. schaffen einen enormen Zusatzaufwand und hohe Komplexität in der Integration und vor allem auch bei Änderungen einzelner Bausteine. Als Reaktionen werden unter anderem alternative E/E Architekturen, die eine Zentralisierung und Konsolidierung von Steuergeräten nach sich ziehen, sukzessive umgesetzt. Architekturen im Sinne eines Industriestandards lassen sich noch nicht erkennen, so gibt es noch diverse Varianten, von Zonenarchitekturen bis Zentralrechner. Virtualisierung und Abstraktion von Hardware Layern nimmt aber in jedem Fall zu, womit sich eine Loslösung von Hardware und Software ergibt und damit eine neue Marktdynamik aufkommen lässt, wenn aktuell klassische Tier 1 Zulieferer in Wettbewerb mit Softwarehäusern, „Big Tech“-Playern und anderen Unternehmen mit starker Software-Expertise treten. Um hier, gerade auf Steuergerätebene wettbewerbsfähig zu bleiben, werden zahlreiche Zulieferer, die eher von der Hardwareseite kommend Software als Teil aber nicht Kern des Produkts sehen, zunehmend mit hohen Anforderungen an ihre Fähigkeiten, Fertigkeiten und Ressourcen zur Softwareentwicklung konfrontiert werden und geeignete Antworten finden müssen.
Um den Integrationsaufwand zu reduzieren, Remote Update-/Upgradefähigkeit zu ermöglichen, neue und vor allem algorithmusbasierte Funktionalitäten (z.B. Bildverarbeitung) zu ermöglichen, gehen mit neuen E/E Architekturen auch neue Software-Architekturkonzepte einher. Dabei wird regelmäßig von sogenannten „Operating Systems“ gesprochen, die letztlich eine Zusammensetzung von Software Stacks sind. Dabei versucht man die zuvor genannten Problematiken zu lösen, das heißt die Anbindung an die Cloud sowie (zunehmende) Auslagerung von Funktionalitäten in die Cloud, Remote Updates/Upgrades, einheitliche Standards (neben bestehenden wie classic/adaptive AUTOSAR). OEMs haben die Bedeutung von neuen Software-Architekturen erkannt – insbesondere induziert durch Tesla, die mit ihrem weitgehenden „Greenfield“-Ansatz ohne „Legacy“-Systeme das Thema neu denken und aufsetzen konnten. Die traditionellen Hersteller haben hier Teslas Wettbewerbsvorteil und -vorsprung erkannt und arbeiten intensiv daran, diesen abzubauen. Dabei setzen sie auf unterschiedliche Strategien. Von der Eigenentwicklung eines eigenen Operating Systems (OS; z.B. Tesla, VW, Daimler) bis hin zur Integration von Drittlösungen – allen voran Android Automotive (z.B. Polestar).
Dabei ist in der gängigen Diskussion nicht eindeutig definiert, was unter einem „Operating System“ zu verstehen ist und wird häufig mit einem Betriebssystem des Infotainments (analog Android, iOS) gleichgesetzt, welches mit Apps etc. bestückt werden kann und was eine der größten Sichtbarkeiten/Möglichkeiten der Differenzierung gegenüber Kunde bietet. Mit Operating Systems der OEMs sind vor allem eigene Software Stacks und die übergreifende Software Plattform gemeint. Diese Eigenentwicklungen stellen OEMs vor signifikante Herausforderungen in der Entwicklung angesichts von hohen Kosten und oft fehlenden Softwareentwicklern. Es ist daher leicht nachvollziehbar, dass viele OEMs nach Alternativen suchen und daher fragen (müssen), welchen Nutzen sie aus einer Eigenentwicklung ziehen würden. Dabei liegen die Vorteile der hohen Eigenwertschöpfung vor allem in der Unabhängigkeit von Tier 1 und vor allem Big Tech Playern wie Google, welche das Fahrzeug als attraktive Kundenschnittstelle auserkoren haben und sich über ein Betriebssystem, gerade im Fokus Infotainment, gut im Markt positionieren können. OEMs bezahlen neben Lizenzen vor allem mit den Daten der Kunden. Dafür erhalten sie aber ein umfangreiches und tief integriertes Infotainment mit geringem Investitionsbedarf und hoher Individualisierbarkeit. Zusätzliche Google Dienste können selbstverständlich leicht integriert werden. Nach Hochrechnungen von Berylls, ist ein Marktanteil von 17% in den nächsten 2-3 Jahren durchaus realistisch. Daneben haben die Hersteller die Möglichkeit auf Industriestandards im Rahmen von Partnerschaften zu setzen, bspw. der Genivi Allianz, welche als Allianz von Automobilherstellen und Zulieferern (u.a. BMW, Daimler, Bosch, Denso, Nvidia) ein auf Linux basierendes Infotainment entwickelt hat.
Wie aufgezeigt, sind die etablierten E/E-Architekturen nicht für aktuelle Anforderungen ausgelegt (Connectivity, Funktionserweiterungen, Remote Updates, etc.). Daher sind die (etablierten) OEMs hier bemüht aufzuholen, wenngleich dies angesichts von Legacy-Strukturen und oft fehlender In-house Softwarekompetenz/-ressourcen eine große Herausforderung darstellt. Im komplexen Feld der Softwarearchitektur und einzelner Domänen, gilt es die Ressourcen richtig einzusetzen, vor allem in den Bereichen mit direktem Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit, wie u.a. Cloud Connectivity, Infotainment oder Autonomes/assistiertes Fahren. Dabei können die OEMs und Zulieferer verschiedene Strategien verfolgen, die sich vor allem nach dem Grad der Eigenwertschöpfung und entsprechendem Fokus differenzieren.
(Kostspielige) Eigenentwicklung eines OS mit dem Ziel, sich nicht in Abhängigkeiten zu begeben, die Datenhoheit zu erhalten, einfache cross-Domain Schnittstellen zu ermöglichen und die Produktivität durch Re-use von Grundlagencode zu erhöhen
Über Kooperationen mit anderen Herstellern und Zulieferern auf eine Industrielösung setzen, um sich gegen die Big Tech Player mit einem „Industriestandard“ zu positionieren und dabei Skaleneffekte und damit geringere individuelle Entwicklungskosten zu nutzen
Kooperation mit Zulieferern/Big Tech Playern (bspw. im Infotainment mit Android Automotive, bei Autonomem Fahren mit Waymo) mit entsprechenden Kosten- und Integrationsvorteilen aber auch potenziellen Risiken lediglich zum Hardware-Lieferanten für das „Smartphone auf Rädern“ zu werden.
Eines lässt sich dabei mit Sicherheit sagen: die Dynamik im Automotive Softwaremarkt hat gerade erst Fahrt aufgenommen und ist noch längst nicht abgeschlossen. Wie sich die OEMs und Zulieferer in diesem Umfeld positionieren wird in vielen Fällen ganz entscheidend für deren zukünftigen Erfolg sein.
Dr. Jan Dannenberg (1962) ist seit 1990 Berater der Automobilindustrie und seit Mai 2011 Gründungspartner bei Berylls Strategy Advisors. Bis zum Frühjahr 2011 war er acht Jahre international als Partner – davon fünf Jahre als Associate Partner – für Mercer Management Consulting und Oliver Wyman tätig. Er ist ausgewiesener Spezialist für Innovationen und Markenmanagement in der Automobilindustrie und berät im Schwerpunkt Zulieferer und Investoren zu Strategie, Mergers & Acquisitions und Performance Improvement. Zudem ist er Geschäftsführer von Berylls Equity Partners, eine auf Mobilitätsunternehmen spezialisierte Beteiligungsgesellschaft.
Bachelor of Arts in Volkswirtschaftslehre von der Stanford University, Studium der Betriebswirtschaftslehre und Promotion an der Universität Bamberg.