Autonomes Fahren: Ernüchterung oder die Ruhe vor dem Sturm?

München, Juli 2023

Autonomes Fahren: Ernüchterung oder die Ruhe vor dem Sturm?

München, Juli 2023
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eit Jahren kursiert ein Sprichwort in der Technologie-Szene: „Egal, wann man fragt: der Durchbruch des Autonomen Fahrens ist immer fünf Jahre entfernt.“ 

In der Tat: Nachdem man in der „AD-Euphorie“ des vergangenen Jahrzehnts davon ausgegangen ist, dass in den frühen 2020er-Jahren Robotaxis zum Straßenbild jeder modernen Großstadt gehören, ist die Bilanz der „Autonomous Revolution“ heute eher ernüchternd.

Im Bereich „Autonomous Driving Mobility-as-a-Service“ (AD MaaS), also des autonomen On-Demand-Personentransports, gibt es weltweit aktuell etwa 110-120 nennenswerte öffentliche und zum Teil kommerzielle Testbetriebe. 70 Prozent von diesen Testbetrieben werden in den technologisch führenden Märkten, in China und in den USA betrieben, der Rest verteilt sich auf Europa, den Mittleren Osten und auf andere Teile der Welt. Fünf Unternehmen weltweit betreiben rund zwei Drittel aller autonomen Flotten.

Etwas mehr als die Hälfte aller Initiativen sind autonome Shuttle-Betriebe, mit Fahrzeugen von z. B. Navya, Easymile oder Perrone Robotics, die Fahrgäste an definierten Haltestellen an Bord nehmen und auf dynamisch gewählten oder statischen Routen an ihr Ziel befördern. Die meisten dieser Testbetriebe operieren mit Kleinstflotten von zwei bis fünf Fahrzeugen.

USA und China geben den Ton an

Autonome Shuttle Services sind heute auf jedem Kontinent zu finden – erstaunlicherweise sind es ausgerechnet die von Ride-Hailing-Diensten dominierten und die Heimat der großen Robotaxi-Unternehmen Waymo und Cruise, die USA, in denen die meisten dieser Kleinpiloten angesiedelt sind. In China hingegen stehen Robotaxi-Services eindeutig im Vordergrund. Chinesische Unternehmen, wie Baidu und die hierzulande nur Insidern bekannten WeRide und AutoX, haben hierbei einen technologischen Reifegrad erreicht, der den deutlich bekannteren US-Marktführern in nichts nachsteht. So betreibt AutoX mit mehr als 1.000 aktiven Fahrzeugen nach eigenen Angaben   die aktuell weltweit größte kommerzielle Robotaxi-Flotte. Die Alphabet-Tochter Waymo und die GM-Tochter Cruise fokussieren sich auf einige Städte in den USA (z. B. San Francisco, Phoenix und Los Angeles), um den Reifegrad ihrer Systeme zu erhöhen, bevor ein großflächiger Roll-out in Angriff genommen wird. Es ist somit offensichtlich, dass das Robotaxi-Geschäft sich zwar nicht schneller von Stadt zu Stadt verbreitet, jedoch innerhalb der Städte deutlich schneller skaliert als autonome Shuttle-Betriebe.

Europa liegt auf der Robotaxi-Landkarte im Vergleich zu den beiden führenden Nationen weit zurück. Alleine der israelische AD-Systemanbieter Mobileye zeigt ein ernsthaftes Engagement, mit einigen lokalen Pionieren, wie z. B. Sixt, VW-Nutzfahrzeuge und dem Benteler-Ableger Holon, autonome Fahrservices in europäische Städte zu bringen. Im Vergleich mit den beiden vorgenannten Regionen hinkt Europa jedoch um einige Jahre hinterher. Dass die Weltmarktführer in naher Zukunft in den europäischen Markt eintreten, ist unwahrscheinlich: zu groß ist das brachliegende Marktpotenzial in den Heimatmärkten, zu komplex, bürokratisch und politisch unwägbar das urbane Marktumfeld hierzulande.

Herausforderungen für Europa

Dass autonome Fahrdienste sich in Europa nicht so schnell durchsetzen können, wie zu Beginn vermutet, liegt an den folgenden Herausforderungen:

  • Technologie: der technologische Reifegrad entwickelt sich zwar stetig weiter; bis das Sicherheitsniveau eines menschlichen Fahrers nachweisbar erreicht ist, dauert es allerdings noch einige Zeit. Ausfallwahrscheinlichkeiten, die vergleichbar mit denen in der kommerziellen Luftfahrt sind, erfordern die Beherrschung jedes nur erdenklichen „Edge Cases“. Die Kosten der dafür erforderlichen Sensorik müssen zudem weiter deutlich sinken.
  • Regulierung: Ausgerechnet Deutschland hat mit der Autonome-Fahrzeuge-Genehmigungs-und-Betriebs-Verordnung, kurz AFGBV, das erste umfassende Regelwerk für das Autonome Fahren auf öffentlichen Straßen vorgelegt. Die Tatsache, dass bis April 2023 kein Hersteller die Zulassung eines Fahrzeugs beantragt hat, zeigt, dass die Prozeduren, nach denen AD-System, Fahrzeug und Operational Design Domänen zugelassen werden, im Teststadium sind und erst im Laufe der Zeit eingeschliffen werden. Eine regional einheitliche Vorgehensweise fehlt sowohl in den USA als auch in der EU – dieser Umstand erschwert die Entwicklung eines skalierbaren Ansatzes für die Hersteller erheblich.
  • Skalierung: Wenn OEMs in AD MaaS auf Produktionsvolumina in der Größenordnung eines Golfs hoffen, werden sie enttäuscht. In den ersten Jahren wird die Jahresproduktion von AD-MaaS-Fahrzeugen, selbst in optimistischen Szenarien, kaum mehr als einige 10-100.000 Einheiten p.a. betragen. Der Grund: die Fahrzeuge werden äußerst gut ausgelastet sein und ein Vielfaches der Transportleistung eines Standard-Pkw bewältigen. In einer Stadt wie München kann eine Flotte von 20.000 Robotaxis den städtischen PKW-Verkehr (>700.000 PKWs) komplett ersetzen.
  • Geschäftsmodell: Was UBER und LYFT in den vergangenen 15 Jahren nicht realisierten, soll durch das autonome Fahren realisiert werden: ein profitables Geschäftsmodell. Doch in Deutschland und Europa bilden das Vergaberecht, die Integration in das ÖPNV-Angebot und die entsprechende Tarifplanung eine Reihe wichtiger Unbekannten in der Rechnung; das erschwert die Planung für die potenziellen Betreiber.

Deutsche Hersteller machen den Weg frei

Die deutschen OEMs haben vor diesem Hintergrund ihre Ambitionen auf eine prägende Rolle in diesem Umfeld weitgehend aufgegeben, und bestehende Partnerschaften mit AD-Anbietern eingestellt bzw. auf Eis gelegt – medienwirksam zuletzt VW/Ford mit Argo. International am ambitioniertesten ist GM mit seiner Tochter Cruise,sowie Hyundai in Partnerschaft mit dem koreanischen Start-up 42Dot. Stattdessen wird das bestehende „Feature Competition“-Geschäftsmodell ausgebaut – L3-Fahren als Option in der S-Klasse für den Privatkunden. Ob die Premium-Strategie angesichts der neuen AD-SW-Stacks aus China mit niedrigen Preisen (z. B. Momenta mit einem L2.5-Kit für 300 USD / Einheit) nachhaltig erfolgreich sein wird, bleibt abzuwarten.

Die entstehende AD MaaS-„Versorgungslücke“ mit geeigneten Fahrzeugen wird von anderen ausgefüllt. Neue OEMs wie NIO oder Zeekr, aber auch ambitionierte „Tier1“-Zulieferer wie ZF, Schäffler und Benteler zeigen mit ihren „People Mover“-Konzepten ihre Ambitionen auf und stoßen bei Städten auf großes Interesse.

Vorfahrt für autonomen Gütertransport

Der vielversprechendste und naheliegendste Anwendungsfall für autonomes Fahren liegt aus Sicht vieler Marktbeobachter im Nutzfahrzeugbereich und dort im Hub-to-Hub-Transport mit fahrerlosen Langstrecken-Lkw. Der gesamte adressierbare Markt wird auf 700 Mrd. USD in den USA und 4.000 Mrd. USD weltweit geschätzt. Die wichtigsten Akteure sind Aurora, Kodiak, Plus, TuSimple und Waymo. Zum Pilotbetrieb in den US-Sonnenstaaten gehören Logistikdienstleister wie FedEx, U.S. Express und Penske.

Das Logistikgeschäft ist strikt TCO-gesteuert, und da der Fahrer heute 40 Prozent der Transportkosten ausmacht, liegt das Interesse der Logistik-Unternehmen an AD auf der Hand. Mehr noch: der massive Fahrermangel macht Automatisierung zu einer schieren Notwendigkeit. Die Operational Design Domäne für Interstate Highways bzw. Autobahnen ist zudem deutlich weniger komplex als der Innenstadtverkehr, den es für AD MaaS zu beherrschen gilt.

Aurora hat angekündigt, bis Ende 2023 für den kommerziellen Einsatz bereit zu sein. Sowohl Volvo Trucks als auch Paccar arbeiten mit Aurora zusammen und repräsentieren 45 Prozent des US-Marktes der Klasse 8. Daimler Truck verfolgt eine Zwei-Säulen-Strategie mit der eigenen Tochter Torc sowie Waymo.

AD MaaS: der Markt „zieht“

In Bezug auf die Nachfrage ist die Lage im „AD MaaS“-Segment vergleichbar. „Wir könnten aus dem Stand viele Shuttles verkaufen, die Städte stehen Schlange“ ist der allgemeine Tenor der Shuttle-Anbieter. Auch hier sind der Fahrermangel – dem ÖPNV fehlen allein in Deutschland heute ca. 35.000 Fahrer – und die ausufernden Subventionen für die defizitären ÖPNV-Betriebe die treibende Kraft hinter der AD-Nachfrage.

Fest steht: ohne das autonome Fahren wird es schwierig mit der Verkehrswende in den Städten. Geschätzte 80 Milliarden wurden bereits in die AD-Entwicklung investiert, doch noch ist – zumindest in Europa – kein Zielbild für ein autonomes Mobilitätssystem erkennbar, wenngleich ökonomisch nur wenige Optionen wirklich sinnvoll sind. Die Tech-Giganten aus China und USA preschen voran. Anstatt sich gegenseitig zu beäugen, sollte die etablierte Automobilindustrie hierzulande ein gemeinsames Konzept entwickeln, wie sie sich der Entwicklung gemeinsam mit den Städten und Kommunen stellen will und wieder eine gestaltende Rolle einnehmen kann.

Es bleibt die Frage: Wann sind die Technologie, Regulierung und das Geschäftsmodell reif für eine Skalierung? In 5 Jahren, das wäre 2028.

AD Bereitstellungen: Überblick

Quelle: Berylls Digital Ventures

Autoren
Dr. Matthias Kempf

Partner

Steffen Stumpp

Associate Partner

Dr. Matthias Kempf

Dr. Matthias Kempf (1974) ist seit August 2011 Gründungspartner bei Berylls Strategy Advisors. Er begann seine Laufbahn im Jahre 2000 bei Mercer Management Consulting. Nach Promotion und weiterer Beratungstätigkeit bei Oliver Wyman war er 2008 bis 2011 im Management der Hilti Deutschland GmbH tätig. Sein Spezialgebiet bei Berylls liegt im Bereich der neuen Mobilitätsdienstleistungen und Verkehrskonzepte. Darüber hinaus ist er Experte bei der Entwicklung und Implementierung neuer digitaler Geschäftsmodelle und der Digitalisierung von Vertrieb und After Sales.

Studium Wirtschaftsingenieurwesen an der Universität Karlsruhe, Promotion an der Ludwig-Maximilians-Universität München.

Steffen Stumpp
Steffen Stumpp (1970) ist seit Oktober 2020 bei der Berylls Group als Leiter der Business Unit Commercial Vehicles. Im Bereich Nutzfahrzeuge hatte er zu diesem Zeitpunkt bereits langjährige Branchen- und Führungserfahrung. Seine berufliche Laufbahn begann Stumpp bei einem OEM und durchlief Stationen in Forschung, Marketing, Produktplanung sowie After-Sales Service. Mit seinem Wechsel in die Automobil-Zulieferindustrie übernahm er bei einem mittelständischen Tier 1 Zulieferer die weltweite Verantwortung für Vertrieb und Marketing. Nach einer weiteren Station als Vertriebsleiter hat er sich zum Einstieg bei Berylls entschieden. Hier verantwortet er den Bereich Nutzfahrzeuge.
Stumpp hat Wirtschaftsingenieurwesen am KIT in Karlsruhe sowie an der TU Berlin mit Schwerpunkt Logistik studiert und hat einen Abschluss als Diplom-Ingenieur.