Standpunkt

Wachstum unter Unsicherheit – kein Widerspruch

Munich, November 2021
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er Bedarf für Veränderungen war in der Automobilindustrie nie größer als heute und zwingt Automobilhersteller wie -zulieferer dazu, getroffene Entscheidungen kurzfristig zu überdenken. Halbleitermangel, Versorgungsunsicherheiten, pandemiebedingte Produktionsausfälle, Elektromobilität und ESG fordern die gesamte Industrie tagtäglich aufs Neue heraus und stellen etablierte Strukturen zunehmend in Frage.

Die gute Nachricht ist: die Automobilindustrie hat sich trotz dem gebotenen Veränderungsbedarf im letzten Jahr wirtschaftlich positiv entwickelt und ist damit weltweit ein wirtschaftlicher Wachstumstreiber.

So konnten die größten Automobilhersteller im letzten Jahr Umsätze von 1,4 Billionen EUR erwirtschaften und lagen damit auf einem Niveau von 2019. Auch die Profitabilität lag im Durchschnitt bei rekordverdächtigen 7,6%. Gleiches gilt auch für die Zuliefererindustrie. In 2021 konnten die größten Zulieferer im Durchschnitt die Umsätze um 16% steigern und müssen daher den Vergleich mit den Erfolgsjahren 2018/19 nicht scheuen. Auch die Gewinnmargen lagen mit 6,3% über dem Niveau von 2019, aber deutlich unter den Margen der Hersteller. Zentrale technologische Wachstumsbereiche sind wieder mal Komponenten für den elektrischen Antriebsstrang sowie das autonome Fahren. Damit lässt sich zusammenfassen, dass sich die Automobilindustrie im letzten Jahr zunehmend besser auf die Unsicherheiten und Krisen eingestellt hat und 2021 unter dem Zeichen der wirtschaftlichen Erholung stand.

Auch wenn diese Entwicklung auf den ersten Blick Anlass zur Freude ist und die Belastbarkeit der Automobilindustrie verdeutlich, darf man sich vom Schein nicht trügen lassen: der Transformationsbedarf bleibt für die gesamte Industrie unverändert hoch. Mit dem Einstieg in das Zeitalter der Elektromobilität werden Zulieferer und Hersteller zunehmend unter Kostendruck geraten und müssen zeitgleich massiv ihre Produktionskapazitäten ausbauen, um den stark wachsenden Bedarf der Endkunden nach batterieelektrischen Fahrzeugen gerecht zu werden. Ferner gilt es Lieferketten für beschaffungskritische Komponenten und Rohstoffe im Einklang mit den ESG-Kriterien für die Zukunft abzusichern.

Die skizzierten Herausforderungen lassen sich eindrucksvoll und anschaulich am Beispiel der Batteriezelle verdeutlichen. Zulieferer und Hersteller bauen derzeit weltweit Produktionskapazitäten für die Zellherstellung auf. So werden in Europa die Fertigungskapazität bis Ende des Jahrzehntes jährlich um 1.300 GWh zunehmen, über 30% davon allein in Europa. Zeitgleich gilt es Kosteneinsparungen von über 30% in der Batteriezelle zu realisieren, um den Umstieg auf die Elektromobilität für den Endkunden kostenseitig attraktiv zu gestalten. Dazu müssen neue Zellchemien entwickelt und erprobt werden sowie Zelldesign und -produktion optimiert werden. Zudem ist die Herstellung von Batteriezellen, zu mindestens derzeit noch, ein wahrer Energiefresser und macht 30% der Energie aus, welche für die Herstellung eines batterieelektrischen Autos erforderlich ist. Die Verfügbarkeit von Grünstrom wird aus ESG-Sicht neben den Energiekosten damit zu einem entscheidenden Kriterium beim Aufbau neuer Produktionsstandorte. Für die Zellherstellung werden zudem Kobalt und Nickel benötigt – beides Rohstoffe mit einem hohen Beschaffungsrisiko. Der größte Nickelproduzent weltweit ist Russland und der Bedarf an Kobalt wird bis 2030 um atemberaubende 400% ansteigen, so dass die weltweiten Nickelvorkommen bis zu Beginn des neuen Jahrzehntes aufgebraucht sein werden. Weitere Herausforderungen ergeben sich in der Softwareentwicklung und -validierung für die Batteriemanagementsysteme, um über die Fahrzeuglebensdauer die gewünschten Reichweiten und Leistungseigenschaften realisieren zu können.

Damit ist klar – die Automobilindustrie befindet sich derzeit in einem massiven Umbruch, der die Branche auch die nächsten Jahre noch begleiten wird. Dies drückt sich auch in einer reduzierten Investitionsbereitschaft von Private-Equity Investoren aus. So sind 73% der Investoren der Auffassung, dass Investitionen in die Automobilindustrie an Attraktivität verloren haben.

Zeiten des Umbruchs und der Veränderung bieten Herstellern wie Zulieferern gleichermaßen auch die Chance, die Zukunft der Automobilindustrie aktiv mitzugestalten. Dazu gilt es die eigene Wertschöpfungstiefe anzupassen, strategische Kooperationen und Partnerschaften zu stärken sowie technologische Innovationen voranzutreiben.

Autor
Dr. Alexander Timmer

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Über den Autor
Dr. Alexander Timmer

Dr. Alexander Timmer (1981) ist seit Mai 2021 als Partner bei der Berylls Group tätig, einer internationalen und auf die Automobilitätsindustrie spezialisierten Strategieberatung. Er ist Experte für Innovations- und Markteintrittsstrategien und kann auf eine langjährige Erfahrung im Operations-Umfeld zurückschauen.

Dr. Alexander Timmer berät seit 2012 Automobilhersteller und -zulieferer im globalen Kontext. Er verfügt über ein fundiertes Expertenwissen in den Bereichen Portfolioplanung, Entwicklung und Produktion. Zu seinen weiteren fachlichen Schwerpunkten zählen unter anderem Digitalisierung und der Themenkomplex rund um die Elektromobilität.

Vor seinem Einstieg bei Berylls Strategy Advisors war er unter anderem für Booz & Company und PwC Strategy& als Mitglied der Geschäftsführung in Nordamerika, Asien und Europa tätig.

Im Anschluss an sein Maschinenbaustudium an der RWTH Aachen und der Chalmers University in Göteborg promovierte er im Bereich der Fertigungstechnologien am Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen.