Quo vadis, Zulieferindustrie – herausfordernde Zeiten erfordern beherztes Handeln

München, August 2024

Quo vadis, Zulieferindustrie – herausfordernde Zeiten erfordern beherztes Handeln

München, August 2024
D

ass sich die Automobilindustrie vor dem Hintergrund von Elektrifizierung, softwaredefinierten Fahrzeugen und autonomem Fahren aktuell in der Transformation befindet, ist hinlänglich bekannt und beschrieben.

Aber wo steuern die Automobilindustrie und insbesondere die Automobilzulieferer angesichts der aktuellen Herausforderungen hin und welche Handlungsoptionen gibt es heute?

Wenn Zulieferer aus Wachstumsthemen aussteigen

Unternehmenslenker in der Zulieferbranche sind aktuell oft nicht zu beneiden und viele schauen reumütig zurück auf vergangene Zeiten, die unter anderem von guter Planbarkeit der Volumenabrufe und einem insgesamt (oftmals) partnerschaftlichen und verlässlichen Verhältnis mit den OEMs geprägt waren. Schließlich zeigt sich heute ein ganz anderes Bild: eine Flut an neuen Herstellern, die den bisherigen Kunden zunehmend Volumen streitig machen. Hochgradig volatile Volumenabrufe, insbesondere bei batterieelektrischen Fahrzeugen. Teure Innovationen, die sich aufgrund von enormem Wettbewerb und niedrigen Preisen nicht rechnen. Hohe Inputkosten, die sich darüber hinaus regional enorm unterscheiden. Kunden, die ganz neue und andere Bedürfnisse haben. Neue, vor allem softwaregetriebene OEMs, die Entwicklungszeiten enorm reduziert haben und bei denen „Time-to-Market“ die zentrale Kenngröße ist. Etablierte Premiumhersteller, deren Flaggschiffmodelle plötzlich keinen Absatz finden, womit auch die Technologieführerschaft in Frage gestellt werden kann. Europäische OEMs, die auch bei absoluten Innovationsthemen lieber mit Zulieferern aus Fernost arbeiten, um trotz enormen Risikos Kosten einzusparen. Der Arbeitsmarkt in Europa und speziell Deutschland ist angesichts von Fachkräftemangel und weiter reduzierter Arbeitszeit längst eine Wachstumsbremse. Risiken werden sukzessive versucht zu vermeiden, gerade auf der Kapitalseite. Die Liste ließe sich beliebig fortführen. Die Konsequenzen lassen sich bereits am Markt beobachten, wenn einzelne etablierte Zulieferer aus absoluten Wachstumsthemen wie Sensoren, Batterie oder Elektromotoren aussteigen.

Zulieferlandschaft in Zukunft – verliert Deutschland an Relevanz?

Wo das Ganze enden wird, ist unklar. Unbenommen bleibt aber, dass China eine ganz spezielle Rolle in der weiteren Entwicklung einnimmt, und zwar aus vielerlei Gründen. Einerseits schwindet zunehmend die lange Zeit erfolgreiche Arbeitsteilung aus Produktion in China und Entwicklung im Rest der Welt. Chinesische Unternehmen produzieren nicht nur, sondern sind oftmals hoch innovativ, gerade in Kerndomänen wie batterieelektrischen Fahrzeugen. Zwar werden in Deutschland rund sieben Mal so viele Patente für Kfz angemeldet wie in China, jedoch wurden aus China rund vier Mal so viele Patente für den Elektroantrieb angemeldet wie in Deutschland. Dass China seine Patentanmeldungen allein im Zeitraum 2010 bis 2020 um den Faktor sechs erhöht hat, zeigt, wo die Reise hingeht. Andererseits werden chinesische OEMs weiterhin zulegen und damit für eine Kräfteverschiebung auf dem globalen Automobilmarkt sorgen. Dabei werden automatisch auch chinesische Zulieferer durch die regionale Nähe weiter skalieren und sukzessive ihre globale Präsenz ausbauen. Ein Trend, der sich auch in den TOP 100 ablesen lässt: Gab es 2012 nur einen Vertreter aus China, waren es zehn Jahre später schon neun und bis 2030 dürfte die Zahl auf rund 20 ansteigen – größere Zukäufe noch nicht einmal eingerechnet.

Somit lässt sich hier ein Szenario zeichnen, in dem vor allem chinesische Zulieferer global Marktanteile gewinnen und für Innovation und Hightech stehen. Demgegenüber müssen gerade deutsche Zulieferer mehr und mehr auf sehr schlanke Strukturen bzw. Kostenvorteile statt Innovationsvorsprung setzen, mit Produktionen in Osteuropa und anderen Best-Cost-Standorten und einer damit einhergehenden zunehmenden Verlagerung von Arbeitskräften in andere Länder. Wie lange die Unternehmen bei verlagerter Wertschöpfung ihren Sitz noch in Deutschland halten, wird vor allem eine Anreizfrage des Staates bzw. der Steuersituation sein. Für Deutschland lässt sich damit nichts Gutes erahnen, sanken die Beschäftigtenzahlen im Automobilsektor ohnehin schon von zuletzt 808.000 im Jahr 2020 auf 774.000 in 2022.

Der Handlungsdruck steigt

Insbesondere für Zulieferer hierzulande gilt es, sich über die stattfindende Transformation und mögliche Szenarien klar zu werden und sich entsprechend vorzubereiten. In jedem Fall muss das Thema Portfolio weit oben auf der Agenda stehen, denn eine gezielte Fokussierung – auch wenn dies oftmals aus emotionaler Sicht schmerzhafte Divestments bei Wachstumsthemen bedeutet – erlaubt die Ressourcenallokation auf Themen mit langfristiger Wettbewerbsfähigkeit und Margenpotenzial. Für die verbleibenden Themen im Portfolio gilt es, für viele, insbesondere deutsche Zulieferer eine radikale Veränderung einzuleiten, unter anderem:

  • Nicht darauf setzen, dass die langjährigen Kunden von gestern auch noch Kunden von morgen sein werden, da es nicht nur Verschiebungen von Marktanteilen auf Seiten der OEMs gibt, sondern die Zusammenarbeit mit diesen auch zunehmend durch kurzfristige Optimierung als durch langjährige stabile Partnerschaften geprägt ist

     

  • Reaktivere Produktentwicklung, wenn diese vom Kunden gewünscht und vor allem bezahlt wird, da sich Innovationen gerade bei kürzer werdenden Zyklen und fehlenden Technologiestandards immer weniger lohnen

     

  • Radikale Reduktion der Eigenwertschöpfung in Deutschland, um der Vielzahl an Standortnachteilen beispielsweise in den Bereichen Energiekosten, Digitalisierung, Infrastruktur und Arbeitsmarkt zu entgehen

     

  • Aktive Vertriebsarbeit bei chinesischen OEMs sowohl für den chinesischen Markt als auch den europäischen Markt, um am Wachstum beziehungsweise an der Substitution etablierter Kunden zu partizipieren

     

  • Deutliche Verschlankung der Strukturen, wie zum Beispiel Abbau administrativer Aufgaben auf ein Minimum oder Abbau von Hierarchien, um schnell auf Marktveränderungen reagieren zu können

     

  • Senkung der Kosten mit allen verfügbaren Mitteln – ohne Rücksicht auf „heilige Kühe“ –, um die Wettbewerbsfähigkeit aufrechterhalten zu können

     

  • Abhängigkeiten von Kunden, Produkten und Regionen reduzieren, um auf die enorme und nicht vorhersehbare Unsicherheit vorbereitet zu sein

Die Herausforderungen sind gewaltig und der langfristige Erfolg ist alles andere als in Stein gemeißelt, daher ist ein zügiges und entschlossenes Handeln unabdingbar.

Autoren
Dr. Jan Dannenberg

Executive Partner

Dr. Alexander Timmer

Partner

Dr. Jürgen Simon

Associate Partner

Dr. Alexander Timmer

Dr. Alexander Timmer (1981) ist seit Mai 2021 als Partner bei Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors) tätig, einer internationalen und auf die Automobilitätsindustrie spezialisierten Strategieberatung. Er ist Experte für Markteintritts- und Wachstumsstrategien, M&A und kann auf eine langjährige Erfahrung im Operations-Umfeld zurückschauen. Dr. Alexander Timmer berät seit 2012 Automobilhersteller und -zulieferer im globalen Kontext. Er verfügt über ein fundiertes Expertenwissen in den Bereichen Portfolioplanung, Entwicklung und Produktion. Zu seinen weiteren fachlichen Schwerpunkten zählen unter anderem Digitalisierung und der Themenkomplex rund um die Elektromobilität.
Vor seinem Einstieg bei Berylls Strategy Advisors war er unter anderem für Booz & Company und PwC Strategy& als Mitglied der Geschäftsführung in Nordamerika, Asien und Europa tätig.
Im Anschluss an sein Maschinenbaustudium an der RWTH Aachen und der Chalmers University in Göteborg promovierte er im Bereich der Fertigungstechnologien am Werkzeugmaschinenlabor der RWTH Aachen.

Dr. Jürgen Simon

Dr. Jürgen Simon (1986) ist als Associate Partner bei Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors) tätig, einer internationalen und auf die Automobilitätsindustrie spezialisierten Strategieberatung. Er ist Experte für Vertriebs- und Unternehmensstrategien sowie M&A und kann auf eine langjährige Beratungserfahrung zurückschauen. Er berät seit 2011 Automobilhersteller und -zulieferer und verfügt über fundiertes Expertenwissen in den Bereichen ganzheitliche Strategieentwicklung, Geschäftsmodelle und Commercial Due Diligence. Weitere Schwerpunkte liegen in Markteintrittsstrategien sowie Themen rund um das „Software Defined Vehicle“. Als diplomierter Ökonom der Universität Hohenheim hat er vor seinem Einstieg bei Berylls am Institut für Unternehmensführung des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) promoviert.

Dr. Jan Dannenberg

Dr. Jan Dannenberg (1962) ist seit 1990 Berater der Automobilindustrie und seit Mai 2011 Gründungspartner bei Berylls Strategy Advisors. Bis zum Frühjahr 2011 war er acht Jahre international als Partner – davon fünf Jahre als Associate Partner – für Mercer Management Consulting und Oliver Wyman tätig. Er ist ausgewiesener Spezialist für Innovationen und Markenmanagement in der Automobilindustrie und berät im Schwerpunkt Zulieferer und Investoren zu Strategie, Mergers & Acquisitions und Performance Improvement. Zudem ist er Geschäftsführer von Berylls Equity Partners, eine auf Mobilitätsunternehmen spezialisierte Beteiligungsgesellschaft.

Bachelor of Arts in Volkswirtschaftslehre von der Stanford University, Studium der Betriebswirtschaftslehre und Promotion an der Universität Bamberg.