Die Kunst der Code-Beherrschung – zwischen Budgetüberschreitung und Zukunftschance

München, August 2024

Die Kunst der Code-Beherrschung – zwischen Budgetüberschreitung und Zukunftschance

München, August 2024
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eue Geschäftsmodelle und Dienstleistungen im Umfeld des Software Defined Vehicle stellen die Zuliefererbranche vor Herausforderungen.

Genauso wie beim Endprodukt verändert sich auch hier das Produktportfolio hin zu mehr softwarebasierten Leistungen bei gleichzeitiger Pflege der traditionellen Produkte. Die Wertschöpfungstiefe und der Aufbau neuer Kompetenzen sind hierbei für den zukünftigen Wettbewerb von Bedeutung. Unterschätzt werden der Grad der Veränderung und der Aufwand der digitalen Transformation. Überschrittene Budgets sowie unterschätzte Investitionen und Kosten, zum Beispiel für Lizenzen, gehören zum Alltag. Als Ergebnis geraten aktuelle Projekte mit Software-Fokus außer Kontrolle. Jüngste Beispiele zeigen, dass Budgetüberschreitungen von mehreren 100 % keine Seltenheit sind und sie – neben der Rentabilität eines Projekts – auch das ganze Unternehmen gefährden. 

Anstieg in den Kosten für Software Projekte

Quelle: Berylls by AlixPartners

Um Softwareprojekte erfolgreich umzusetzen, benötigt es also mehr als die weitverbreitete Einführung agiler Methoden auf der operativen Ebene. Insgesamt gibt es drei zentrale Handlungsfelder für die Kunst der Code-Beherrschung:

1. Prozesse, Methoden und Tools (PMT)

Neben dem Prinzip „Software als Produkt“ entstehen auch im Arbeitsumfeld Veränderungen. Softwareentwicklung wird transformiert zur Softwareproduktion, was eine Veränderung der Prozesse umfasst. Die Einführung agiler Arbeitsweisen allein erhöht nicht die operativen Fähigkeiten, Software zu entwickeln, zu integrieren und freizugeben. Aktivitäten und Artefakte müssen angepasst werden, um das Betriebssystem (operating model) zur Softwareproduktion zu befähigen.

Anforderungen

Traditionelle Entwicklungsprozesse in der Automobilindustrie dauern drei bis fünf Jahre und spezifizieren Anforderungen teils bis zum Projektende. Releases an Kunden im Zwei-Wochen-Takt lassen dies nicht zu. Die RFLP-Logik konsequent durchgehend anzuwenden und daraus eine zentral gesteuerte Architektur abzuleiten, ist neben den technischen Herausforderungen auch für die regulatorischen Themengebiete zwingend erforderlich. Folglich würde eine ganzheitliche Anforderungsstruktur (Requirement), einer Funktionsarchitektur (Function) zuvorkommen, in der die regulatorischen, technischen und kundenorientierten Anforderungen gesammelt, geclustert und hierarchisiert werden. Basierend darauf folgt die Konzeption der Systeme (Logical), die der finalen physischen Architektur (Physical) zu Grunde liegen.

Artefakte

Da Prozesse und Tools aus der Hardwareumgebung bereits existieren, werden diese oft auf Software angewandt. Die Verschiebung zu mehr Software bedeutet, Prozesse aus zwei Perspektiven in Frage zu stellen: a) Kontext und b) Verknüpfung. Im Hinblick auf den Kontext müssen Aktivitäten und Artefakte an die Softwareprodukte angepasst werden, wie zum Beispiel das Releasemanagement. Andernfalls werden erforderliche Prozesse ignoriert und die benötigte Prozesstreue wird nicht erreicht. In Bezug auf Verknüpfung ist die Verfügbarkeit von Daten und stringente Versionierung unbedingt erforderlich, um zum Erfolg beizutragen. Produkte wie Codebeamer ermöglichen die Nachverfolgung von Aktivitäten ohne nennenswerte Medienbrüche.

Integration und Testen

Wenn man von Tests spricht, sind CICD-Pipelines – automatisierte Prozesse, die eine kontinuierliche Integration (Continuous Integration CI) und Bereitstellung (Continuous Deployment, CD) ermöglichen – Teil der Konversation. Die neueste Version einer Software kann damit für Testzwecke auf den aktuellen Stand der Hardware (virtuell) hin überprüft werden. Hierbei sind Partner gefragt, die Datenmodelle entwickeln sowie notwendige Infrastruktur bereitstellen – eine essenzielle Make-or-buy-Entscheidung. Operativ ist die direkte Übertragung der Testergebnisse in die Entwicklung erfolgsentscheidend. Die Etablierung von DevOps auf Basis automatisierter Workflows reduziert nicht nur den Steuerungsaufwand, sondern erhöht auch die Entwicklungsgeschwindigkeit.

Industrialisierung

Die Prozesse um CICD und DevOps können als Softwareproduktion umschrieben werden, da Funktionen in großem Maßstab produziert und bereitgestellt werden. Um Qualität und Produktionssicherheit zu gewährleisten, ist ein klarer Releaseprozess von zentraler Bedeutung. Definierte Kategorien zur Kundenfähigkeit sowie die Überwachung der Releaseabläufe werden erfasst, um die Übertragung funktionsfähiger Software in das Kundenfahrzeug sicherzustellen.

2. Capability Management: Qualität Quantität

Automobilzulieferer stehen vor der Herausforderung, dass Entwicklungsteams und Management oftmals nicht die richtigen oder ausreichenden Fähigkeiten besitzen, um im Softwaregeschäft erfolgreich zu werden. Diese Herausforderung wird durch die kritische Bedeutung von Qualität über Quantität in der Softwareentwicklung und -architektur verschärft, denn leistungsstarke Softwareingenieure sind bis zu 10-mal produktiver als ihre durchschnittlichen Kollegen. Hierbei gilt es für Zulieferer, die wesentlichen Erfolgsfaktoren zu berücksichtigen.

Zuerst müssen Zulieferer den Grad der Kerneigenleistung im Bereich Software identifizieren und strategisch Partnerschaften oder Akquisitionen nutzen, um diese zu stärken.

Ein umfassendes Verständnis für die notwendigen Rollen und Fähigkeiten im Softwarebereich ist entscheidend, um gezielte Rekrutierungsbemühungen, maßgeschneiderte Schulungsprogramme, spezifische Karrierewege für Experten und strategische Personalplanungsinitiativen zu entwickeln. Angesichts sich rasch entwickelnder Technologien ist zudem eine kontinuierliche Fähigkeitsverbesserung von größter Bedeutung. Top-Tech-Unternehmen geben beispielsweise den Mitarbeitern jede Woche Zeit, um sich eigens ausgewählten Nebenprojekten und Expertenkreisen zu widmen. Diese Praxis fördert nicht nur Innovation, sondern pflegt auch eine Kultur des ständigen Lernens und der Auseinandersetzung mit vielfältigen technischen Alternativen.

Durch den hohen Wettbewerb um wenige Top-Talente müssen Zulieferer über die klassischen Recruiting-Kanäle hinausdenken, um neue Mitarbeiter zu gewinnen. Dies beinhaltet alternative Talentpools wie Coding-Bootcamps, Top-Committer zu Open-Source-Projekten und Hackathons. Zudem muss die Möglichkeit geschaffen werden, dass Top-Entwickler auch Top-Gehälter verdienen können, ohne dabei zwangsläufig in die Management-Karriere gedrückt zu werden.

Schließlich ist es entscheidend, eine Arbeitsumgebung zu schaffen, die die „Developer Experience“ priorisiert, zum Beispiel durch Zugang zu modernsten Technologien und eine kollaborative Kultur und flachere Entscheidungshierarchien, um einen attraktiven Arbeitsplatz für neue und bestehende Mitarbeiter zu bieten.

3. Führung

Die Organisation der Softwareentwicklung in agilen Teams ist heutzutage Standard. Aber während auf der operativen Ebene in neuen Strukturen Software entwickelt wird, haben Führungskräfte häufig Probleme, diese Teams zu nachhaltigen Erfolgen zu führen. Viele von ihnen waren erfolgreich in der klassischen Hardwareentwicklung und stehen nun vor der Herausforderung, ihren Führungsstil anzupassen und sich weiterzuentwickeln. Software-Führungskräfte sollten deswegen die nachfolgenden Stellhebel in der Mitarbeiterführung beherzigen.

Zunächst benötigen Führungskräfte die Beurteilungskompetenz, um Softwareprojekte bewerten und steuern zu können. Dies ist die Grundlage für effektive und effiziente Entscheidungen unter Berücksichtigung von technischen, kommerziellen und strategischen Aspekten. Aktuelle Trends zu „Code-first“ oder „Everything-as-code“ verstärken diese Anforderung.

Zudem müssen Führungskräfte bereit sein, Entscheidungen im Alltagsgeschäft in den agilen Projektteams zu belassen. Zum Beispiel sollte die kurzzyklische Repriorisierung von Features innerhalb eines definierten Rahmens den Teams überlassen werden, um den besten Output sicherzustellen. Da Softwareentwicklung im Vergleich zu Hardwareentwicklung dynamischer abläuft, führt eine starre Steuerung gegen ursprünglich definierte Spezifikationen und Meilensteinplänen selten zu erfolgreichen Produkten. Führungskräfte sollten ihre Teams vielmehr anleiten, zunächst lieferfähige Softwarestände zu generieren, die den minimalen Kundenanforderungen und der Regulatorik entsprechen. Erweiterungen können in der Software über kontinuierliche Over-the-Air-Updates bereitgestellt werden.   

Zuletzt sollten sich Führungskräfte als Brückenbauer und Systemintegratoren zwischen der Software- und Hardwareentwicklung verstehen. Sie sollten Fragestellungen klären wie: Welche Softwareanforderungen müssen wirklich definiert sein bei der Festlegung der Hardware (meist lange Zeit bevor die erste Zeile Code geschrieben wird)? Was sind die kritischen Meilensteine, die bereits früh mit ersten Softwareständen versorgt werden müssen? Oder: Wie können Software- und Hardwareteams besser zusammenarbeiten? Die reibungsarme Synchronisation von langzyklischer Hardwareentwicklung und kurzzyklischer Softwareentwicklung wird zunehmend zu einer erfolgskritischen Aufgabe, die Führungskräfte steuern müssen.

Zeit zu handeln

Softwareprojekte, die aus dem Ruder laufen, sind in der Automobilindustrie heute keine Seltenheit und können signifikanten finanziellen Schaden verursachen. Neben den strukturellen Hebeln wie der Standardisierung von Prozessen, Methoden und Tools werden die richtigen internen und externen Capabilities benötigt. Führungskräfte – heute häufig mit hardwarelastigem Hintergrund – müssen ihre Führungspraxis auf die softwarespezifischen Anforderungen anpassen.

Durch den zunehmenden Trend hin zum Software Defined Vehicle müssen Zulieferer jetzt handeln, um ihre Zukunftsfähigkeit zu sichern.

Autoren
Christian Grimmelt

Partner

Sebastian Böswald

Associate Partner

Sebastian Bräuer

Associate Partner

Altan Yamak

Associate Partner

Christian Grimmelt

Christian Grimmelt (1985) ist seit Februar 2021 fester Bestandteil des Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors) Teams. Zuvor hat er bereits umfangreiche Berufserfahrung in Topmanagementberatungen und in der Automobil-Zuliefererbranche gesammelt.

Während seiner Zeit bei dem weltweit größten Automobil-Zulieferer hat er den Aufbau einer Zentraleinheit zur Optimierung des weltweiten Logistik- und Produktionsnetzwerkes des Unternehmens vorangetrieben.

Christian Grimmelts Beratungsschwerpunkte sind die Themen Logistik- und Produktionsnetzwerkoptimierung, Einkauf und (digital) Operations inklusive Anlauf- und Turnaround-Management für OEMs und insbesondere Zulieferer.

Christian Grimmelt besitzt ein Diplom für Wirtschaftsingenieurwesen vom Karlsruher Institut für Technologie.

Sebastian Bräuer
Sebastian Bräuer (1982) verstärkt Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors) seit 2022 als Associate Partner. Er startete seine Karriere in der Beratung und leitete Projekte mit Fokus auf Operational Excellence vorrangig in der Automobilindustrie, jedoch auch im Konsumgüterbereich und der Chemieindustrie. Anschließend wechselte er zu einem deutschen OEM, bei dem er Führungsrollen in der Organisationsentwicklung, der Entwicklung digitaler Produkte und Services sowie der digitalen Produktstrategie übernahm. Bei Berylls fokussiert er auf Themen rund um das Digital Car.
Sebastian schloss den Diplom-Wirtschaftsingenieur an der Technischen Universität Dresden ab.
Sebastian Böswald

Sebastian Böswald (1991) kam im April 2021 zu Berylls by AlixPartners (ehemals Berylls Strategy Advisors). Er ist Associate Partner und ein Experte für Transformation und Betrieb. In den letzten zehn Jahren hat er sich auf Strategie und Organisationsdesign sowie auf zwei Megatrends konzentriert, die die Automobilindustrie prägen: Software-definierte Fahrzeuge und CASE (Connected, Autonomous, Shared und Electrified Mobility). In diesen Bereichen hat er sowohl unsere globalen OEM-Kunden als auch Tier-1-Zulieferer und Technologieunternehmen beraten.

Bevor er zu Berylls kam, arbeitete er für PwC Strategy& und begann seine Karriere bei BMW als Projektmanager für Produktstrategie und digitale Ladedienste.

Er erwarb einen Bachelor of Science in Automobilinformatik an der Technischen Universität Ingolstadt sowie einen Master of Science in Management an der Technischen Universität München.