Transformation in Europa – China als Beschleuniger

München, Juli 2025

Transformation in Europa - China als Beschleuniger

München, Juli 2025
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ie europäische Automobilindustrie befindet sich mitten in einem tiefgreifenden Jahrhundertwandel. Elektromobilität, Software-defined Vehicles und neue Kundenbedürfnisse fordern OEMs und Zulieferer gleichermaßen heraus. Doch während viele Debatten intern geführt werden, kommt die eigentliche Disruption zunehmend von außen – und zwar aus China.

Nicht nur chinesische OEMs drängen mit wachsender Stärke auf den europäischen Markt. Auch Zulieferer aus dem Reich der Mitte greifen gezielt in die Wertschöpfungsketten ein und stellen die etablierten Kräfteverhältnisse in Frage. Europa, Geburtsort der Automobilindustrie und Leitmarkt der letzten 100 Jahre, ist zum Spielfeld alter und neuer Player geworden. Werden nun die Spielregeln neu geschrieben?

Chinas Aufstieg: vom Heimatmarkt zum Exportmotor

China bleibt mit Abstand der größte Automobilmarkt – und bekanntermaßen braucht eine Leitindustrie auch einen starken Heimatmarkt. Der ist nun seit 2024 mit einem Anteil von 63 % an Neuzulassungen von Fahrzeugen heimischer Hersteller (die Jahre zuvor lag er chronisch unter 25 %) endgültig erreicht worden.

Der Aufstieg der chinesischen Automobilindustrie im E-Zeitalter ist kein Zufall, sondern Ergebnis langfristiger Industriepolitik mit massiven Investitionen von privaten und staatlichen Stakeholdern. Während europäische Player jahrzehntelang vom chinesischen Markt profitierten – oft mit zweistelligen EBIT-Beiträgen –, haben chinesische Hersteller die Zeit genutzt, um eine eigenständige und in vielen Bereichen hochkompetitive Industrie aufzubauen. Heute gibt es über 100 Automarken in China, davon sind mehr als 80 allein in den letzten sieben Jahren entstanden – sogenannte Disruptoren, die traditionelle Industriemuster nicht nur in Frage stellen, sondern tatsächlich auch nachhaltig verändern. Marktführer wie BYD, Geely oder SAIC sind längst nicht mehr reine Inlandsakteure, sondern exportieren weltweit. 2024 gingen über eine Million in China produzierte E‑Fahrzeuge von Geely, BYD und SAIC ins Ausland – das ist eine Steigerung von 40 % gegenüber dem Vorjahr.

Zugleich verlieren westliche Hersteller Marktanteile im einstigen Wachstumsmarkt. Deutsche OEMs etwa hatten 2018 noch einen Marktanteil von 26 % in China, der im letzten Jahr auf unter 18 % geschrumpft ist. Dieser Rückgang hat aufgrund des traditionell überproportionalen Profitabilitätsbeitrags in China konkrete Folgen für die globalen Investitionsspielräume und die Wettbewerbsfähigkeit in anderen Regionen.

Abbildung 1 – Anteil Chinesischer OEMs am globalen Produktionsvolumen

Quelle: S&P

China greift in Europa an

Der chinesische Markteintritt in Europa verläuft bislang noch nicht wie erhofft, angesichts von geringem Absatz, sich ändernden Vertriebsmodellen oder ständigem Wechsel in der Führung. Nach der ersten Iteration des Markteintritts, in der man viel lernen musste, arbeiten die chinesischen OEMs nun aber an der nächsten Welle. Dabei setzen sie beispielsweise neben reinem Export auch auf lokale Fertigung. So bauen OEMs wie BYD, Chery oder MG zunehmend lokale Produktionskapazitäten auf. Über zehn neue Werke wurden bereits angekündigt, vor allem in osteuropäischen Ländern wie Ungarn, Polen oder Serbien. Parallel dazu entstehen strategische Joint Ventures und Akquisitionen. Dabei verfolgen die OEMs meist ein Ziel: Kontrolle über die gesamte Wertschöpfungskette. Entsprechend werden auch chinesische Zulieferer gezielt in die Märkte nachgezogen.

Besonders eindrucksvoll ist der Vormarsch chinesischer Zulieferer in Europa. Während 2012 lediglich ein chinesisches Unternehmen im globalen Top-100-Ranking vertreten war, sind es 2023 bereits neun – mit weiterem Wachstumspotenzial. Branchenprimus CATL dominiert den globalen Batteriemarkt, weitere Player wie Joyson Safety Systems (passive Sicherheit), NBHX Group (Innenraum), Sailun (Reifen) oder Tuopu  expandieren systematisch in Richtung Westen. Zwischen 2024 und 2026 sollen allein 17 neue Produktionsstätten chinesischer Zulieferer in Europa entstehen.

Europäische Zulieferer unter doppeltem Druck – aber auch mit Chancen

Für Europas Zuliefererindustrie ergibt sich daraus ein doppelter Druck: Zum einen verlieren sie Marktanteile bei ihren traditionellen OEM-Kunden, deren Geschäftsmodelle durch die chinesische Konkurrenz untergraben werden. Zum anderen geraten sie selbst unter Preisdruck durch chinesische Zulieferer, die mit hohen Volumina, Kostenvorteilen und wachsender Innovationskraft auftreten.

Die Folge: Während 2023 nur 7 % der im Rahmen einer Studie befragten europäischen Zulieferer mehr als ein Viertel ihres Umsatzes mit chinesischen OEMs in China erwirtschafteten, erwarten das bis 2030 bereits 18 %. Auf globaler Ebene sehen 23 % der Befragten Chancen, mit chinesischen OEMs auch außerhalb Chinas bis 2030 mehr als 10 % ihres Umsatzes zu machen – ein heute noch marginaler Bereich. Dies verdeutlicht: Trotz zunehmenden Wettbewerbes sind dies Anzeichen für eine weitere Globalisierung der Lieferketten chinesischer OEMs.

Diese Zahlen deuten auf einen Paradigmenwechsel hin. Wer bisher glaubte, sich ausschließlich auf westliche OEMs konzentrieren zu können, wird künftig neue Partner brauchen und neue Spielregeln akzeptieren müssen. Dazu gehört auch, die chinesischen OEMs besser zu verstehen und hier die China-Kompetenz in Vertrieb und Projektmanagement aufzubauen.

Handlungsempfehlung: China nicht meiden, sondern verstehen

Ein einfaches „Decoupling“ ist weder realistisch noch zielführend. Gerade bei Commodities und Schlüsseltechnologien – etwa in der Batterie- und Elektronikfertigung – ist China bereits dominanter Anbieter. In puncto Preis sind europäische Zulieferer heute oftmals kaum wettbewerbsfähig. Bei Qualität und Innovation sehen sie sich zwar noch vorn, rechnen aber selbst damit, dass dieser Vorsprung bis 2030 sukzessive zurückgeht.

Abbildung 2 – Vergleich der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Zulieferer gegenüber chinesischen Zulieferern
(in %, heute und in 5 Jahren)

Quelle: Befragung europäischer Zulieferer, n=45, Berylls by AlixPartners

Es gilt daher, die Transformation aktiv zu gestalten – und das bedeutet in erster Linie: sich auf China strategisch vorzubereiten. Zwingend erforderlich ist dabei eine initiale Standortbestimmung, die aufzeigt, wie groß die Auswirkungen für das eigene Unternehmen sind und wo Handlungsfelder liegen (vgl. Berylls by AlixPartners Rising China Preparedness Assessment). Dabei müssen strategische Kernfragen realistisch und objektiv bewertet werden, z. B.:

  • Wie stark ist das Unternehmen heute von chinesischen OEMs oder Tier-1-Kunden abhängig – und wie stabil sind diese Beziehungen angesichts geopolitischer Risiken und zunehmender Lokalisierungsstrategien?

  • Welche Bestandteile des Produktportfolios sind auch in einem chinesisch geprägten Markt differenzierungsfähig? Und wo besteht Substitutionsgefahr durch chinesische Anbieter?

  • Welche Abhängigkeiten bestehen entlang der Lieferkette – und wo liegen Chancen zur Resilienzsteigerung, etwa durch Regionalisierung?

  • Wie steht man im direkten Vergleich zu chinesischen Wettbewerbern – technologisch, kostenbezogen und hinsichtlich Time-to-Market?

  • Ist das Unternehmen organisatorisch und kulturell in der Lage, mit der Geschwindigkeit und Flexibilität chinesischer Akteure Schritt zu halten?

  • Wie robust ist das Geschäftsmodell gegenüber Marktveränderungen oder politischen Eingriffen?

Vom Reagieren zum Gestalten

China ist nicht nur eine Herausforderung – es ist ein Beschleuniger der Transformation in Europa. Wer weiterhin in alten Strukturen verharrt, riskiert den Anschluss. Wer aber die Dynamik nutzt, Kooperationen eingeht und seine Organisation konsequent auf Wettbewerbsfähigkeit ausrichtet, kann aus der aktuellen Bedrohung eine strategische Chance machen.

Der Wandel ist unausweichlich und die Automobilindustrie wird auch außerhalb Chinas „chinesischer“ werden. Die Frage ist nicht, ob europäische Zulieferer reagieren, sondern wie schnell und ob sie bereit sind, China als integralen Bestandteil ihrer Zukunft zu begreifen.

Autoren
Dr. Jürgen Simon

Associate Partner

Dr. Xing Zhou

Partner & Managing Director